Es waren einmal Brüderchen und Schwesterchen. Sie gehörten zu fahrendem Gauklervolk, doch hatten sie keine Schuh, so arm waren sie.
Eines Tages hatte die Truppe in einem unheimlichen Wald das Nachtlager aufgeschlagen. Brüderchen wurde ausgeschickt, Feuerholz zu sammeln, während Schwesterchen zurückblieb und in der Suppe rührte. Der Bub schlug sich durchs Unterholz und sammelt fleissig Reissig und kleine Äste auf, so viel er tragen konnte.
Schwerbepackt machte Brüderchen sich auf den Rückweg zum Lager. Doch so sehr er sich auch anstrengte, so fand er doch den Weg nicht mehr. Verzweifelt irrte er unter den Bäumen umher, aber es half nichts: Er hatte sich verirrt. Brüderchen setzte sich hin und wusste nicht, was tun.
Da vernahm er eine Musik im Wind. Leicht säuselte sie dahin. Wie verzaubert stand er auf und folgte der Melodie in den Wald hinein. Brüderchen kam auf eine Lichtung und sah vor sich eine kleine Hütte, die von innen erleuchtet war. Die liebliche Musik musste von dort kommen, und so gab es kein Zögern. Nervös klopfte der Bub an die Tür. Es öffnete eine Frau mit schwarzen Haaren und in schwarzem Gewand. Sie lächelte ihn an und fragte, was sein Begehr sei. Er bat um Gastfreundschaft für die Nacht, morgen würde er weiterziehen.
Die Frau bat ihn herein und tischte wohl auf. Was da alles auf dem Tisch stand, das hatte Brüderchen sein Lebtag nie gegessen. Während er Braten und Wein in sich hineinschlang, leistete die Frau ihm Gesellschaft und fragte ihn, wer er sei und woher er käme. Der Wein lockerte die Zunge des Knaben und er gab ihr auf alles Antwort.
Schließlich war er satt und zufrieden und müde. Die Frau brachte ihn zu Bett und deckte ihn sanft zu. Brüderchen schlief sofort ein. Nun aber nahm die Frau eine Nadel und stach dem Bub in den Finger. Sieben Blutstropfen fing sie einem Glas auf. Nun begann die Hexe – denn die Frau war eine Hexe – zu dem Blut zu reden. Durch sanfte Schmeicheleien und vertrauliches Wispern überredete sie die Tropfen dazu, lebendig zu werden.
Das Glas zersprang und das Blut breitete sich aus. Rot überzog es alle Wände, durchstreifte alle Räume, kroch unter jede Ritze. Als das Schauspiel vorrüber war, stand die Hexe im Thronsaal eines prächtigen Schlosses. Die Wände und die Wandteppiche waren Rot, in Gold eingefasste Spiegel säumten die Wände. Und überall blitzten Rubine und blinkten Perlen.
Diener und Leibwächter erschienen, und Brüderchen wurde in den tiefsten Kerker gebracht.
Schwesterchen aber machte sich große Sorgen um ihren Bruder. Nach einer schlaflosen Nacht voller Sorgen machte sie sich am Morgen auf, Brüderchen zu suchen. Sie lief durchs Unterholz und immer weiter in den Wald hinein. Sie verirrte sich, aber merkte es nicht, denn alles, woran sie dachte, war ihr Bruder.
Einmal musste sie eine Pause machen, da begann der Wind zu säuseln. Sanft strich er über Schwesterchens Kopf hinweg, da begann er zu reden:
“Schwesterchen, Schwesterchen
sei achtsam
Schwesterchen, Schwesterchen
Trau ihr nicht
Brüderchen, Brüderchen
ist im Schlosse rot
Brüderchen, Brüderchen
ist in großer Not
Schwesterchen, Schwesterchen
Trau ihr nicht
Schwesterchen, Schwesterchen
Nimm dich in Acht vor der Frau in Rot
Brüderchen, Brüderchen
ist in Not
Brüderchen, Brüderchen
Befrei ihn von der Frau in Rot
Schwesterchen, Schwesterchen
Nimm dich in Acht
Schwesterchen, Schwesterchen
Nimm nichts an, was sie anfasst
Brüderchen, Brüderchen
ist umsponnen von dem Zauber
Brüderchen, Brüderchen
Befrei ihn von der Frau in Rot
Schwesterchen, Schwesterchen
Nimm nichts an, was sie anfasst
Schwesterchen, Schwesterchen
Nimm dich in Acht vor ihrer Macht”
Schwesterchen sah sich vor und begab sich auf die Suche nach dem roten Schloss. Drei Tage und Nächte irrte sie durch den Wald. Am vierten Tag sah sie endlich das Schloss in der Ferne, und am Abend hatte sie es erreicht.
Schwesterchen trat ein und wurde freundlich willkommen geheißen. Sie wurde in den Thronsaal geführt, wo die Hexe im roten Gewand auf dem Thron saß. Die Hexe fragte Schwesterchen, wer sie sei und was ihr Begehr sei, und Schwesterchen antwortete, dass sie ihren Bruder suche.
Die Frau in Rot wurde außerordentlich freundlich und ließ auftischen. Schwesterchen war sehr hungrig, aber sie nahm sich in Acht. Sie aß nur von dem, was ihr die Diener reichten, und alle Leckerbissen, die ihr die Hexe anbot, schlug sie aus. Die Hexe wurde immer trickreicher, und Schwesterchen wurde immer vorsichtiger. Irgendwann war ihr Hunger zwar noch nicht gestillt, aber Schwesterchen nahm keinen Bissen mehr zu sich. Sie nahm nichts an von der Frau in Rot an.
Die Hexe versuchte es die ganze Nacht lang, Schwesterchen zu überlisten, aber Schwesterchen nahm keine Perlen, keinen Trank und kein Bett, das die Hexe vorher angefasst hatte. Im Morgengrauen wurde sie schließlich so wütend, dass sie ihren Dienern befahlt, das Mädchen zu packen und in den Kerker zu werfen. Aber die Diener der Hexe konnten Schwesterchen nicht festhalten. Sie glitt ihnen durch die Finger und sprang davon.
Schwesterchen rannte in den Kerker hinunter, auf der Suche nach Brüderchen. Sie fand ihn in der letzten Zelle im finstersten Loch. Das Mädchen schlug gegen das Zellengitter und es sprang auf. Hastig zog sie Brüderchen hinter sich her, und die beiden rannten aus dem Schloss. Als Brüderchen jedoch über die äußerste Schwelle getreten war, begann das rote Schloss hinter ihnen zusammenzufallen. Während sie in den Wald hineinrannten, wurde das Gemäuer zu einer Ruine und schließlich zu Staub. Die Hexe und ihre Diener waren verschwunden.
Zu zweit fanden Brüderchen und Schwesterchen den Weg aus dem Wald heraus, und sie lebten glücklich und vergnügt bis an ihr Ende.
Wenn aber ein Kind unartig ist und den Brei nicht essen will, oder seiner Mutter Kummer macht, so kommt die Frau in Rot, nimmt das Kind mit und sperrt es in ihren Kerker auf ein Lebtag. Brave Kinder, die auf ihre Eltern hören, haben vor ihr nichts zu befürchten.